Wie entsteht Mobbing und wie können Eltern ihre Kinder schützen? bildungsXperten sprach mit Dr. Karl Gebauer, Autor des Buches „Mobbing in der Schule“, der selber 35 Jahre lang als Lehrer tätig war, über die Ursachen und Folgen von Mobbing.
bildungsXperten: Herr Dr. Gebauer, was bedeutet überhaupt „Mobbing“? Wo enden „harmlose“, „alterstypische“ Konflikte unter Kindern und wo fängt Mobbing an?
Dr. Karl Gebauer: Gelegentliche Streitereien und Rangeleien gehören zum Alltag von Kindern. Aber Mobbing ist ein aggressiver Akt und bedeutet, dass ein Schüler oder eine Schülerin über einen längeren Zeitraum belästigt, schikaniert oder ausgegrenzt wird. Der Mobber – es kann auch eine Mobberin sein – schart andere um sich, die ihn bei seinen erniedrigenden Handlungen unterstützen. Man spricht von Mobbing, wenn sich alles auf ein Kind zuspitzt. Das Opfer versteht in der Regel nicht, warum es beleidigt, gequält und gedemütigt wird. Diese Erfahrung, „alle sind gegen mich“, beeinträchtigt massiv sein Selbstwertgefühl. Es gerät in eine absolut hilflose Situation und braucht daher fast immer die Hilfe anderer Personen. Täter wollen treffen, selbst aber nichts abbekommen. Sie legen großen Wert darauf, dass Erwachsene ihr Tun nicht durchschauen.
bildungsXperten: Welche Formen von Mobbing gibt es?
Dr. Karl Gebauer: Mobbing kann sich andeuten, wenn z.B., Schulsachen beschädigt oder Gerüchte verbreitet werden.
Es kommt vor, dass ein Schüler oder eine Schülerin von Gruppenarbeiten ausgeschlossen wird. Demütigungen erfolgen über Mimik, Gestik und Zeichnungen. Beleidigungen unterschiedlichster Art werden auf Zetteln, in Schülerzeitungen und in Briefen mitgeteilt. Oft werden Opfer in demütigende Situationen gebracht und dabei mit dem Handy fotografiert. Anschließend werden die Szenen gemeinsam angeschaut, als e-Mail verschickt oder gar ins Internet gestellt. Unter Jugendlichen kommt es auch zu sexuellen Diffamierungen.
bildungsXperten: Hat die Zahl von Mobbing-Fällen an Schulen in den letzten Jahren zugenommen?
Dr. Karl Gebauer: Es ist schwer zu beurteilen, ob es zu einer Zunahme gekommen ist, weil die Vergleichszahlen fehlen. Die aktuellen Zahlen über die Häufigkeit des Auftretens von Mobbing schwanken. Das hängt unter anderem mit der Definition von Mobbing zusammen. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass etwa jeder sechste Schüler als Mobbingopfer angesehen werden kann.
bildungsXperten: Was bringt Kinder dazu, andere Kinder zu mobben?
BuchtippMobbing in der Schule
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Dr. Karl Gebauer: Zunächst möchte ich hervorheben, dass Kinder mit einem guten Selbstwertgefühl andere nicht mobben müssen. Sie fühlen sich wohl, haben Freunde und in der Regel auch Lernerfolge. Warum sollten sie also andere demütigen?
Als Ursachen von Mobbing kann man ansehen: Tiefe Kränkungen, Erfahrung von Gewalt, Traumatisierungen, Beschämungen und Erfahrungen von Ausgrenzungen. Mobbing speist sich aus einem untauglichen inneren Arbeitsmodell, mit dem ein Mensch versucht, selbst erfahrene Ohnmacht in Macht umzuwandeln. Dem Mobbing liegt eine destruktive-emotionale Dynamik zugrunde. Diese kann sich dann entwickeln, wenn Kinder in Ohnmachtsituationen keine vertrauensvollen und sie schützenden Helfer hatten. Sie übernehmen dann das Handlungsmuster ihrer Peiniger. 14 Prozent der Eltern erziehen nach einer neuen Studie gewaltbelastend, d.h. die betroffenen Kinder sind erheblichen Gewalthandlungen ausgesetzt. Wenn man dann noch bedenkt, dass 90 Prozent aller Eltern gewaltfrei erziehen wollen, es aber nur 30 Prozent schaffen, dann liegt hier ein Reservoir für künftige Gewaltanwender.
bildungsXperten: Können Eltern Mobbing entgegenwirken?
Dr. Karl Gebauer: Der Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls ist der beste Schutz vor einer Verstrickung in Mobbing. Ein gutes Selbstwertgefühl entwickelt sich in der frühen Kindheit über die Erfahrung von Geborgenheit.
Sichere Bindungserfahrungen sind die beste Grundlage für den Aufbau von Verhaltensmustern, die einen Menschen weitgehend davor schützen, andere demütigen zu müssen, denn mit der Erfahrung von Geborgenheit wird im kindlichen Gehirn die Fähigkeit zu Empathie ausgebildet. Mobbing zeichnet sich durch die Abwesenheit von Empathie aus. Kinder mit einem guten Selbstwertgefühl haben keine Veranlassung zu mobben. Sie können allerdings Opfer werden.
In diesem Fall sind sie aber eher als andere in der Lage, sich Hilfe bei Lehrkräften oder ihren Eltern zu holen, da sie im Verlauf ihrer Entwicklung die Erfahrung von Vertrauen gemacht haben.
bildungsXperten: Bei welchen Anzeichen sollten Eltern aufhorchen?
Dr. Karl Gebauer: Eltern sollten auf ganz alltägliche Dinge achten. Wenn ihr Kind zum Beispiel bisher gerne zur Schule ging und auch gute Leistungen erbrachte, nun aber in seinen Leistungen nachlässt, wenn es morgens nicht aufstehen mag, keine Lust mehr auf die Schule hat, sich ständig unwohl fühlt, über Kopf- und / oder Bauchschmerzen klagt, können das Hinweise auf Mobbing sein. Eltern sollten diese Beobachtungen als Ausgangpunkt für Gespräche mit ihrem Kind nehmen.
bildungsXperten: Und wie kann man seinem Kind als Mutter oder Vater helfen, wenn es bereits in eine Mobbingsituation geraten ist?
Besteht zwischen Eltern und Kind ein Vertrauensverhältnis, dann wird ein Kind auch offen über seine Situation sprechen. Viele Kinder reden in solchen Situationen nicht mit den Eltern, weil sie der Meinung sind, die Eltern seien in den Notsituationen des schulischen Alltags nicht anwesend, könnten ihnen dann ohnehin nicht helfen. Vertraut sich ein Kind seinen Eltern an, gilt als oberstes Gebot, nichts ohne Wissen und Zustimmung des Kindes zu unternehmen.
In einem echten Mobbingfall hat ein Kind bereits erhebliche Anteile seines Selbstvertrauens eingebüßt. Wenden sich nun die Eltern hinter dem Rücken ihres Kindes an die Klassenlehrerin oder den Schulleiter, dann geht der Rest an Vertrauen auch noch den Bach hinunter. Eltern sollten vor allem ihrem Kind gegenüber deutlich machen, dass sie ganz auf seiner Seite stehen. In gemeinsamen Überlegungen sollte sie die nächsten Schritte überlegen. Das können dann Gespräche mit den Lehrkräften oder der Schulleitung sein. Dabei ist darauf zu achten, dass von deren Seite alles getan wird, dass sich das betroffene Kind in den folgenden Tagen und Wochen sicher fühlen kann. Opferschutz steht bei allen Maßnahmen an oberster Stelle.
bildungsXperten: Wie kommt man als Mobbingopfer aus diesem Teufelskreis heraus? Gibt es Stellen, an die man sich anonym wenden kann und wo man Hilfe bekommt?
Dr. Karl Gebauer: Zunächst ist es aus meiner Sicht wichtig, dass sich das Opfer Personen seines Vertrauens sucht. Das können die Eltern, gute Freunde oder Verwandte sein. Grundsätzlich können sich Opfer an die schulischen, örtlichen oder regionalen Beratungsstellen wenden.
Generell sollte gelten, dass Mobbing dort bearbeitet wird, wo es entsteht. Das ist für Schüler und Lehrer die Schule. Die Schulleitung muss dafür Sorge tragen, dass es ein schulinternes Mobbinginterventionsteam von gut ausgebildeten Lehrkräften gibt, an die sich Schüler, aber auch Lehrer und Eltern wenden können.
bildungsXperten: Wie kann ein solches Inverventionsteam helfen?
Allein das Wissen um die Existenz eines Interventionsteams trägt zu einer Beruhigung der oft turbulenten Ereignisse bei. Deshalb ist es wichtig, dass Schüler, Eltern und Lehrkräfte über die Arbeitsweise und die Kompetenzen eines Interventionsteams informiert sind. Dabei kommt es darauf an, eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen. Dann – aber nur dann – gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten: Gespräche mit dem Opfer; Gespräche zwischen Opfer und Täter; Gespräche in kleinen Gruppen; Gespräche mit den Eltern, Gespräche mit allen Beteiligten.
bildungsXperten: Beim Mobbing gibt es meist einen „Leitwolf“ und mehrere Mitläufer, die mobben, weil sie Angst haben, sonst selbst zum Opfer zu werden. Was kann ich tun, wenn ich mich als Schüler in einer solchen Situation befinde?
Dr. Karl Gebauer: Mit der Frage ist bereits angedeutet, dass das Gefühl der Angst bei Mobbing eine entscheidende Rolle spielt. Diese Erfahrung lässt manche Kinder zu Mitläufern werden. Für einen konstruktiven Umgang mit Mobbing ist entscheidend, dass die verantwortlichen Erwachsenen eine Vorstellung von den Gefühlen der Akteure haben, um zu verstehen, warum sich Kinder in einer solchen Situation oft handlungsunfähig fühlen.
Die Innenwelt der Mitläufer zeichnet sich durch Gefühle wie Angst, Ohmacht und Unsicherheit aus. Gegenüber dem Opfer verhalten sie sich „kalt“, dem Täter gegenüber geben sie sich unterwürfig. Die Ambivalenz ihrer Gefühle lässt ihnen oft keine Ruhe und treibt sie dazu, mindestens zu signalisieren, dass hier etwas schief läuft. Täter haben keine Veranlassung an der Situation etwas zu ändern. In allen Fällen wirkt das Grundgefühl der Angst. Das Muster der Gefühle lässt sich so zusammenfassen: Das Opfer weiß nicht, warum ihm das passiert. Der Täter strebt nach Macht und Überlegenheit. Mitläufer sind hin und her gerissen. Es braucht also Vertrauen und Mut auf der Seite der Opfer und Mitläufer, wenn sie an der Situation etwas ändern wollen. Leider sind diese emotionalen Potenziale oft schon zu stark beeinträchtigt oder gar zerstört.
bildungsXperten: Gibt es typische Opferbilder, oder kann Mobbing jeden treffen?
Dr. Karl Gebauer: Große, schlanke, kleine, dicke, dünne, hübsche und weniger hübsche, kluge und weniger kluge Kinder können Opfer werden. Es gibt nicht das typische Opfer. Wird zum Beispiel ein Schüler mit herausragenden Leistungen Opfer, dann führt das leicht zu der Annahme, er sei ein Streber und das sei ihm zum Verhängnis geworden. Es trifft aber auch Schüler mit Lern- und Verhaltensproblemen.
Schnell wird nach möglichen Anteilen des Opfers gesucht. Es scheint so zu sein, dass wir gerne möglichst schnell die Gründe für Mobbing erkennen möchten. Oft orientieren wir uns an äußeren Merkmalen. Es entlastet uns von der Erkenntnis, dass in einem Mobbingprozess eine innere Dynamik wirkt, die wir oft nicht verstehen. Wir müssen es aushalten, dass wir noch nicht wissen, warum ein Mensch zum Opfer eines Mobbers wird.
Es gibt auch noch keine Antwort auf die Frage, mit welchem Spürsinn ein Mobber sein Opfer aussucht. Wir kennen die Strukturen von Mobbing, können die Handlungsweisen der Akteure beschreiben, verfügen über ein Wissen hinsichtlich der Folgen von Mobbing. Wir können uns auch das Leiden der betroffenen Opfer vorstellen. Wir können Hypothesen über die Hintergründe und das Zusammenspiel dieser komplexen gruppendynamischer Ereignisse aufstellen, aber ein Wissen über das fein gesponnene Zusammenwirken innerer Handlungsmuster in Verbindung mit äußeren Ereignissen, haben wir noch nicht. Es bleibt die Frage: Wie verhakt sich ein Täter in sein Opfer?
bildungsXperten: Immer wieder hört man von „Cyber-Mobbing“, zur Zeit sorgt die Mobbing-Webseite „Isharegossip“, auf der Nutzer anonym andere Schüler und Lehrer beschimpfen konnten, für Furore. Was versteht man eigentlich unter „Cyber-Mobbing“ und warum ist dieses Thema so präsent?
Dr. Karl Gebauer: Cyber-Mobbing ist eine Variante von Mobbing. Personen werden beschimpft, beleidigt und diffamiert und aus Internetaktivitäten ausgegrenzt. Oft geht es um sexuelle Bloßstellungen oder es werden bestimmte sexuelle Praktiken unterstellt. Es geht im weitesten Sinne um eine Verletzung des persönlichen Lebensbereichs.
Cyber Mobbing wird häufig von denjenigen eingesetzt, die auch auf anderem Wege Gewalt ausüben, steht also in einem Zusammenhang mit Mobbing-Attacken, wie sie in der Schulrealität stattfinden. Das bedeutet, dass Cyber-Mobbing mindestens teilweise durch Präventions- und Interventionsmaßnahmen bearbeitet werden kann, mit denen man auch dem in der Schulgemeinschaft auftretenden Mobbing begegnet.
Die Folgen des Cyber-Mobbing werden von manchen Beobachtern für das Opfer als verheerend eingeschätzt. Es sind Fälle bekannt, in denen Opfer den Tod als „Ausweg“ wählten. Nach einer Studie bezeichnen allerdings 84 % der befragten Schülerinnen und Schüler Cyber-Mobbing als weniger schlimm als traditionelles Mobbing. Auch hinsichtlich des „großen Unbekannten“ liefert eine Untersuchung ein „beruhigendes“ Ergebnis: 89 % Prozent der Opfer wissen, wer hinter den Demütigungen steckt.
Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass in der Realität an dem Phänomen Mobbing gearbeitet werden muss. Es sollten die bekannten Formen der Prävention und Intervention greifen. In der Prävention geht es unter individuellem Aspekt um den Aufbau eines guten Selbstwertgefühls; bezogen auf die Schulgemeinschaft kommt es darauf an, immer wieder Werte, Arbeitshaltung und soziale Spielregeln zu thematisieren.
bildungsXperten: Können sich Opfer von Mobbing jemals aus dieser Rolle befreien? Oder muss, wer in der Schule gemobbt wurde, auch als Erwachsener Angst vor Mobbing haben? An wen können sich erwachsene Betroffene für Hilfe wenden?
Dr. Karl Gebauer: Aufgedeckte und bearbeitete Mobbingsituationen tragen zur Entwicklung psychosozialer Kompetenz bei. Diese Kompetenz schafft Schutz vor künftigen Mobbingsituationen.
Wenn es den Lehrkräften gelingt, Mobbing in behutsamer Weise zu bearbeiten, dann können alle Beteiligten daraus einen Nutzen ziehen. Sie sind künftigen Mobbingsituationen nicht mehr hilflos ausgeliefert. Das gilt für Täter, Mitläufer und für Opfer. Entscheidend ist die Erfahrung, dass man zur Lösung des Problems beigetragen hat. Diese Erfahrung führt dazu, dass sich im Gehirn Muster des Gelingens ausbilden. Sollte eine solche Bearbeitung nicht möglich gewesen sein, dann kann man davon ausgehen, dass dieses intensive negative Erlebnis verdrängt wird. Die damit verbundene Angst kann dann durch ähnliche Erlebnisse wieder ausgelöst werden.
bildungsXperten: Vielen Dank für das Interview!
Das Interview führte Sarah Dreyer
Autor/in: Dr. Karl GebauerTags: Cyber-Mobbing, Mobbing