Besonders unter Schülerinnen und Schülern ist Internetmobbing sehr verbreitet. Diese „virtuelle“ Form stellt eine Verschärfung des realen Mobbings in der Schulklasse dar.
Wenn früher: „Christian ist doof!“ an die Wand oder die Schultafel geschrieben wurde, ließ sich das leicht entfernen. Und der Kreis derjenigen, der davon Kenntnis erhielt, war überschaubar. Bei den Schmähungen im Internet weiß niemand, wie viele Menschen dies gelesen haben und einfach auswischen lässt sich das auch nicht.
Dabei ist dieser beleidigende Satz relativ harmlos und muss nicht unbedingt zum Mobbing gehören. Aber die im „Netz“ verbreiteten Aussagen, Gerüchte, Fotos und Videos (oft mit dem Handy aufgenommen) sind meist weit folgenschwerer. Üble Behauptungen („ … ist schwul.“, „… klaut.“, „… stinkt.“, „… hat ein Verhältnis mit dem Mathe-Lehrer.“ usw.) können sehr schnell weit verbreitet werden und einzelnen Kindern oder Jugendlichen enorm schaden. Sie werden in ihrer Lebensfreude und Leistungsfähigkeit eingeschränkt, können lang anhaltende Sozialängste entwickeln, werden unter Umständen krank. In einzelnen Fällen führten diese – auch Cyber-Bullying genannten Aktionen – sogar zum Selbstmord.
Als Prävention wird eine gute Medienerziehung gefordert. Medienkompetenz für Schülerinnen und Schüler ist ohne Zweifel wichtig. Zum einen kann damit gefördert werden, dass Kinder und Jugendliche vorsichtiger werden und nicht Dinge über sich im Internet veröffentlichen, die gegen sie verwandt werden können. Zum anderen kann eine gute Medienpädagogik („Gut“ heißt hier, dass nicht nur technisches Wissen vermittelt wird, sondern auch Identifikation mit den Mobbingopfern und Einfühlung) verhindern, dass andere via Internet erniedrigt werden.
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Jedoch werden regelmäßig auch Schülerinnen und Schüler dem Internetmobbing ausgesetzt, die nichts Abgreifbares über sich selbst auf ihrer Pinnwand veröffentlicht haben oder sogar noch nie im Internet waren. Viele erfahren gar nicht davon, weil die „Hassgruppen“ nur einigen bestimmten Personen Zugang zu ihren Nachrichten gestatten. Die Opfer können nicht lesen, was an Aktionen gegen sie geplant ist, wenn sie am nächsten Tag wieder in die Schule kommen. Denn ca. 80% der Mobber im Internet sowie auch der Betroffenen sind nach einer Untersuchung der Universität Landau ebenso in der selben Schulklasse. Die restlichen 20 Prozent dürften Mobbingopfer sein, die sich wehren (das ist dann eigentlich kein Mobbing mehr) und Trittbrettfahrer, die im Internet von der Bloßstellung Einzelner erfahren und sich aus Empörung über dessen vermeintliche Gemeinheiten oder „aus Spaß“ daran beteiligen.
Die Drohung mit Strafen (nach StGB, JGG, Schulrecht) ist bisweilen hilfreich, sei es als Prävention oder als Intervention gedacht. In der Mehrzahl der Fälle wirken aber die Strafandrohungen nicht. Das rührt daher, dass die Kinder und Jugendlichen jeden Tag erleben, dass niemand bestraft wird. Außerdem scheint „Dissen“ (im Slang der Jugendlichen verharmlosend für den Begriff Mobbing verwandt) ganz normal und nicht schlimm zu sein. Viele Fernsehsendungen – nicht zuletzt „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS) – leben davon, dass manche vor einem Millionen zählenden Publikum hemmungslos erniedrigt werden.
Die vorsichtigen unter den Mobbern schützen sich vor Zugriff, indem sie gefälschte E-Mail-Adressen nutzen, damit sie nicht identifiziert werden können und bisweilen auch, indem sie von einem schuleigenen Computer oder aus einem Internetcafé heraus agieren. Denn die Seitenbetreiber von „SchülerVZ“, „Facebook“, „YouTube“ und Anderen können (meist nur über einen Rechtsanwalt) dazu gezwungen werden, die unverwechselbare IP-Adresse des Computers herauszugeben. Wenn es jedoch ein Computer war, der in der Schule oder einem Internetcafè steht, weiß man dann immer noch nicht, welche Person ihn bedient hat.
Viele Internetexperten raten (und geben auch eine Anleitung dazu an), die Provider zu veranlassen, die diskriminierenden Beiträge zu löschen. Das kann helfen – die Herabsetzungen sind weg und werden nach einiger Zeit vergessen. Doch leider wird vielfach berichtet, dass das Ansehen des betroffenen Jungen oder Mädchen so geschädigt ist, dass er oder sie in der Klasse unten durch ist, permanent gehänselt oder ignoriert und ausgeschlossen wird. In den Fällen, in denen die Eltern einen Schulwechsel erreicht hatten, um dem Mobbing ihres Kindes in der Klasse zu entkommen, bewirkte das Cyber-Bullying sogar, dass auch die neue Gruppe informiert war, „was da für einer kommt“, und ihn entsprechend behandelte. Vielfach war der diskriminierende Beitrag vor der Löschung schon auf der Festplatte eines Schülers gespeichert (oder auf einem Handy) und wurde unter anderem Namen bald wieder ins Netz gestellt.
Das scheinbar Leichteste wäre es, wenn sich die ganze Klasse solidarisch auf die Seite des Mobbingopfers stellte und den drei oder vier diskriminierenden Beiträgen im Internet zwanzig positive gegenüber stellte („… ist in Wirklichkeit sehr nett und hilfsbereit.“, „… die Behauptung … ist falsch und böswillig.“, „… der feige Mobber versteckt sich hinter einem Pseudonym.“ usw.) Dazu mag die eine oder andere Klasse bereit sein, doch in den meisten Fällen ist es nicht so. Das rührt daher, dass viele Schülerinnen und Schüler der Ansicht sind, das Mobbingopfer sei selber an seiner Ausgrenzung schuld, weil es sich so „unmöglich“ verhalte. Es sei überaus empfindlich und reizbar, biedere sich bei Lehrkräften an, verpetze Mitschüler, sei außerordentlich albern oder teilnahmslos passiv, wolle mit seinem vielen Schwänzen wohl gar nichts mit der Klasse zu tun haben.
In Wahrheit sind dies Reaktionen auf die täglichen Herabsetzungen. Wer immer wieder erniedrigt wird, kann nicht gelassen freundlich sein, sondern wird empfindlich, ängstlich, sucht Schutz bei Lehrkräften, kämpft um Anerkennung (zum Beispiel als witziger Alleinunterhalter) oder flüchtet aus der Schule, weil er die Situation nicht mehr ertragen kann. (Literatur: Karl Dambach, Mobbing in der Schulklasse, 3. Auflage, ERV, München 2009, oder Karl Dambach, Wenn Schüler im Internet mobben, ERV, 2011). Diese eigentlich verständlichen Reaktionen werden von Klassen, Lehrkräften und Eltern nicht als Folge, sondern als Ursache für die Ausgrenzung des Opfers gehalten. Sie meinen, würde sich dieser Junge, dieses Mädchen nicht bei der Lehrerin „einschleimen“, würden sie auch nicht abgelehnt. Würde der Junge nicht ständig den unerträglichen Klassenkasper abgeben, hätte auch niemand etwas gegen ihn. Übrigens, sagen sie, sei er schon mit solch merkwürdigen Verhaltensweisen an die Realschule gekommen, bevor er von irgendjemandem angefeindet worden wäre. Das ist zwar manchmal richtig, doch sind diese Reaktionen dann meist an den vorherigen Schulen eingeprägt worden und werden in der neuen Klasse unter dem sozialen Stress, den niemand so empfindet wie das Mobbingopfer, vielfach trotz besseren Wissens automatisch wieder reproduziert.
Lehrkräfte an weiterführenden Schulen bekommen vom Mobbing oft nichts mit. Vieles findet außerhalb des Unterrichts, auf dem Schulweg, in den Pausen, in der Umkleidekabine der Sporthalle, in Freistunden statt. Oder es geschieht so subtil während des Unterrichts (Zettel werden herumgereicht, Gerüchte in die Welt gesetzt, Betroffene isoliert), dass die Lehrerin, der Lehrer nichts merkt.
Oftmals erzählt der Sohn oder die Tochter zu Hause gar nichts oder berichtet nur sehr unvollständig. Das mag bisweilen der Fall sein, weil sie ihre Eltern nicht beunruhigen wollen, meist aber, weil sie fürchten die Eltern könnten spontan andere Eltern, Lehrkräfte oder gar Schüler ansprechen, wodurch ihre Lage dann an der Schule sich noch beträchtlich verschlechtern könnte. Oft berichten sie auch deshalb nichts, weil ihnen bewusst ist, dass sie falsch reagiert haben, wenn sie empfindlich und aggressiv überreagiert haben, oder gepetzt, oder geweint, oder alle mit ihren Witzen genervt, oder die Schule geschwänzt haben. Das sollen die Eltern nicht erfahren.
Wenn Vater oder Mutter dennoch vom Mobbing erfahren, handeln viele kopflos: Sie bedrohen mobbende Schüler, machen den anderen Eltern Vorwürfe oder beschuldigen Lehrkräfte, nichts gegen das Mobbing zu unternehmen. Dann ist für die Mitschüler klar, das Mobbingopfer intrigiert. Die angesprochenen Eltern fragen ihre Kinder und wieder andere Eltern: Alle sind der Ansicht, das Opfer sei selbst schuld. Die Lehrkräfte halten den Eltern des Opfers vor, ihr Kind störe den Unterricht und sei unangepasst. Im Kollegium verbreitet sich unter Umständen die Meinung, dies sei ein querulantisches Kind von querulantischen Eltern.
Das Konzept „Soziales Lernen“ für alle in der Klasse: Es gibt nicht nur Mobbing-Opfer und -Täter in der Klasse, sondern auch viele „Zuschauer“, oft die Mehrheit, die – anders als die meisten Lehrkräfte – sehr wohl merken, was innerhalb dieser Gruppe passiert. Sie unterstützen die Opfer nicht und holen auch keine Erwachsenen zu Hilfe. Zum Teil machen sie das, weil sie der Ansicht sind, die Außenseiter seien selber Schuld, zum Teil, weil sie Angst vor aggressiven Mobbern haben, zum Teil, weil sie froh sind, dass jemand anderes in der Rolle des Opfers ist, denn sie haben Angst, das könnte auch ihnen widerfahren. Das Gleiche gilt auch für die Mitläufer unter den Mobbern: Sie machen deshalb mit (manchmal mit schlechtem Gewissen), damit sie auf der Seite der „Sieger“ sind und nicht bei den „Verlierern“. Sie brauchen eine Förderung ihres Sozialverhaltens, damit sie nicht weiterhin zu denjenigen gehören (wie die Zuschauer), denen man später mangelnde Zivilcourage vorwirft, die wegschauen, die nichts riskieren und damit Mobbing in der Arbeitswelt wie Diskriminierung in der Gesellschaft unterstützen.
Selbst die „Chefmobber“, die aus voller Überzeugung andere mit Psychoterror überziehen, haben langfristig Nachteile davon. Kurzfristig gewinnen sie Anerkennung und genießen die Macht über andere. Langfristig jedoch, wenn sie gewohnt sind, Umgang, Freundschaften und Partnerschaften mit Druck und Gewalt zu dominieren, können sie nie sicher sein, echte Zuwendung oder Liebe zu erfahren, wenn sie einmal nicht stark sind. Deshalb brauchen alle in der Klasse soziales Lernen, wie es so oder ähnlich in den meisten Lehrplänen und den Bildungsstandards gefordert wird. Diese Forderungen nach sozial verantwortlichem Handeln sind jedoch meist vage und abstrakt. Im Gegensatz zu der Organisation der Unterrichtsfächer findet man für die Sozialkompetenz nicht, welche Lehrkraft in welchem Fach und mit welchen Mitteln das erreichen soll. So ist es nicht verwunderlich, dass auf diesem Gebiet recht wenig geschieht.
Wie kann man einen Prozess sozialen Lernens in der Klasse in Gang setzen? Bestimmt nicht durch Predigen von sozialem Lernen, nicht durch Verträge mit den Schülerinnen und Schülern, die alle unterschreiben müssen, nicht durch Appelle an das Gewissen, auch nicht durch entsprechendes Vorleben der Erwachsenen. Der Einfluss von Eltern und Lehrkräften auf des Sozialverhalten der Kinder wird schon in der Vorpubertät deutlich geringer. Junge Menschen, die selbst erwachsen werden wollen, grenzen sich ein Stück weit von den sie bestimmenden Erwachsenen ab. Sie bevorzugen zum Beispiel andere Kleidung, andere Musik, haben andere Vorstellungen vom Nutzen des Lernens. Da hierfür selten ein Lob von Vater, Mutter, Lehrer, Lehrerin zu erwarten ist, wächst der Einfluss der Gleichaltrigen, der Peergroup, die sagt: „Du bist okay.“ Also muss die ganze Gruppe mit einbezogen werden (d. h. gemeinsam handeln im Unterricht, gemeinsam neue Erfahrungen machen) und vor allem müssen Emotionen einbezogen werden: sich mit anderen – auch den Mobbingopfern – identifizieren, sich einfühlen und mitfühlen können. Verstehen, dass jeder zum Betroffenen werden kann, dass die Solidarität aller erforderlich ist.
Würde man als Lehrkraft das Gruppenverhalten direkt ansprechen, müsste man mit großem Widerstand der Klasse rechnen. Niemand will sich Vorwürfe wegen schlechten Sozialverhaltens machen lassen, keiner will seine (im Vergleich zum Mobbingopfer) gute Position in der Klassenhierarchie aufgeben. Deshalb würde man bei diesem eigentlich offenem, ehrlichem und direktem Verfahren erleben, dass sich fast alle verschließen: „Der ist selber dran schuld.“, „Der hat es verdient.“, „Das war doch nur Spaß.“, sind gängige Reaktionen auf den Vorstoß des Lehrers, der Lehrerin. Darum ist als erste Stufe ein verfremdeter Einstieg über Literatur und mit dem Verfahren des szenischen Spiels (nach Ingo Scheller) angezeigt. Am Beispiel fiktiver, „fremder“ Gruppen ist viel leichter zu vermitteln, wie sich die Einzelnen verhalten, was sie fühlen, welche Folgen das hat und dass jeder ausgegrenzt werden kann.
Jeder kann sich im Schutz der Rolle mit seinen Überzeugungen einbringen und im gemeinsamen Handeln mit den anderen neue Einstellungen und Überzeugungen entwickeln. Auf der zweiten Stufe werden dann die Erkenntnisse von der Literatur auf eigene Erlebnisse übertragen, damit die Kinder und Jugendlichen deutlich erkennen, was der fiktionale Text mit ihrer Wirklichkeit zu tun hat.
Erst wenn alle notwenigen Erkenntnisse gewonnen sind, kann man die Situation in der eigenen Klasse ansprechen – falls das überhaupt noch erforderlich ist: Manchmal hat sich das Sozialverhalten der Klasse schon spürbar verbessert. Dies alles soll nicht in Sonderveranstaltungen geschehen, sondern im regulären Unterricht umgesetzt werden. Im Allgemeinen kann dies gut im Deutschunterricht laufen (mündliche und schriftliche Kommunikation, Umgang mit Texten, Reflexion über Sprache), in Religion/Ethik (Werte/Normen/Sozialverhalten), in Politik/Sozialkunde (Wie Kinder und Jugendliche sich verhalten) und in anderen Fächern (zum Beispiel, wenn die Schüler in Englisch schon genug Sprachkenntnisse mitbringen: Golding, Lord of the Flies). Ausführlichere Erläuterungen finden sich in den beiden schon genannten Büchern und in: Karl Dambach, Zivilcourage lernen in der Schule, ERV, München 2006).
Wenn ein entsprechendes soziales Lernen gegriffen hat ist es leicht möglich, dass sich viele der Mitschülerinnen und Mitschüler mit eigenen Beiträgen schützend vor denjenigen stellen, der unter Cyber-Bullying zu leiden hat. Und: Kinder und Jugendliche können sich auch für Lehrkräfte einsetzen, die im Internet verleumdet werden.
Als Prävention für Lehrkräfte empfiehlt es sich, eine „Feedback-Kultur“ im Klassenzimmer einzuführen, damit Vorwürfe gegen Lehrerinnen und Lehrer, zum Beispiel wegen schlechter Noten oder Benachteiligung im Unterricht, ausgeräumt werden können und nicht von verärgerten Schülern ins Netz gestellt werden. (Näheres: Karl Dambach, Wenn Schüler im Internet mobben)
Autor/in: Karl DambachTags: Cybermobbing, Gesunde Ernährung, Internetmobbing, Solidarität, soziales Lernen, Vorbeugung