Mehr Zeit für das, was sinnvoll ist – ein Plädoyer fürs Runterschalten

Mehr Zeit für das, was sinnvoll ist – ein Plädoyer fürs Runterschalten

Wer kennt das nicht: Ein Termin jagt den nächsten, selbst die Wochenenden sind exakt durchgetaktet. Immer mehr Menschen entscheiden sich dafür, genau daran etwas zu ändern: Sie wollen der Fremdverwaltung entkommen, endlich etwas Sinnvolles für sich und andere tun. Mit anderen Worten: Sie wollen runterschalten oder downshiften.

Mitten im Leben mit  einer beruflichen Umorientierung zu sich selbst finden, nachdem man jahrelang eher fremdbestimmt unterwegs war, ist freilich nicht einfach. Jeder Umsteiger hat dabei auch mit Gegenwind in Form von gesellschaftlichen Vorurteilen zu kämpfen.

Runterschalten braucht individuelle Lösungen

Vorurteil Nr. eins: Runterschalten sei doch eigentlich ein Total-Ausstieg.

Da irrlichtern Ideen vom Ex-Manager, der Schäfer wurde, durch die Medienlandschaft. Eine so radikale Kehrtwende kommt jedoch im echten Leben eher selten vor. Schließlich kann jeder selbst dosieren, wie weit er mit dem Runterschalten gehen will: Rezepte nach dem Motto „werde Minimalist“ gibt es nicht. Manche Umsteiger schalten in ihrer neuen Funktion auch wieder „hoch“,  arbeiten also mehr oder übernehmen mehr Verantwortung, solange sie Sinn darin sehen. Wer sinnerfüllt arbeitet, hat bekanntermaßen mehr Energie.

Endlich tun, was man kann und will

Vorurteil Nr. zwei: Es gehe beim Runterschalten nur um die Verminderung von Stress. Dabei ist das nur ein willkommener Nebeneffekt, der sich einstellt, wenn man gefunden hat, was man wirklich kann und will. Und das findet sich oft erst im zweiten Anlauf. Wer weiß denn schon mit achtzehn, welchen Beruf man in der Lebensmitte noch gern ausfüllt? Meistens sind die ersten beruflichen Weichenstellungen ja ohnehin eher dem Zufall oder gutgemeinten Ratschlägen von Bekannten und Verwandten geschuldet.

Kein Kindergeburtstag: Zum neuen Ziel steuern

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Das dritte Vorurteil hängt eng mit dem zweiten zusammen: Wer glaubt, es gehe beim Runterschalten nur um Stressvermeidung, verbreitet auch gern, dass diejenigen, die runterschalten, Leistungsverweigerer seien. Schlimmer noch, da schwingen unterschwellig Motive von Fahnenflucht und Verrat mit – und jeder weiß ja, wie einst mit Deserteuren umgegangen wurde…Heute wird zwar niemand mehr standrechtlich erschossen, aber dennoch wiegt dieser kollektive Druck im beruflichen Alltag besonders schwer. Er hat zwei Folgen: Einerseits treibt er fähige Menschen in den Burnout und lässt ganz erhebliche volkswirtschaftliche Kosten entstehen. Inzwischen gibt es eine ganze Burnout-Industrie mit Seminaren, Kliniken und Reha-Zentren.

Zum anderen gibt er denjenigen, die unbeirrt weiter machen, die Möglichkeit, sich als Siegertypen darzustellen. Dass ihnen dies oft nur mit diversen Pillen oder Alkohol gelingt, bleibt ja meistens verborgen.  Ebenso ausgeklammert wird gern, dass so ein Neuorientierungs-Prozess auch kein Kindergeburtstag ist. Es kostet Zeit, Mut und die Fähigkeit, sich gegen äußere und innere Widerstände zum neuen Ziel zu steuern. Wer das erreicht, hat allerhand geleistet.

Ist die Trendwende in der öffentlichen Wahrnehmung in Sicht?

Aber es gibt leise Anzeichen, dass sich zumindest bei der öffentlichen Wahrnehmung dieser Vorurteile etwas ändert: Die Berichterstattung wird differenzierter, in diesem Jahr verging kein Monat, in dem der drohende kollektive Burnout nicht medial thematisiert wurde. Endlich  verlagert sich der Akzent der Meinungsmacher auf das, was in den Unternehmen geschieht: Weg vom vormals gern als unfähig dargestellten Individuum, hin zu den „strukturellen Problemen“, die immer mehr Arbeit auf immer weniger Schultern verlagern. Endlich gibt es auch zarte Ansätze in Unternehmen, mit ihrem Personal wirklich so umzugehen, wie sie immer behaupten: Nachhaltig.

Der schwäbische Werkzeugmaschinenbauer Trumpf bietet für jeden seiner Mitarbeiter individuell zugeschnittene Zeitmodelle an. Dort können die Mitarbeiter alle zwei Jahre selbst entscheiden, ob sie wöchentlich mehr oder weniger arbeiten möchten. Außerdem gibt es Arbeitszeitkonten, auf dem bis zu 1000 Stunden „angespart“ und zu einem späteren Zeitpunkt abgerufen werden können. Der Gewinn für das Unternehmen liegt auf der Hand: Mitarbeiterloyalität und Motivation steigen, Know-How wandert seltener ab, Krankmeldungen gehen zurück. Bleibt abzuwarten, ob das nur einzelne Streiflichter sind oder ob mehr daraus wird…

Autor/in: Dr. Wiebke Sponagel
Veröffentlicht am 20. September 2011