Studieren mit Handicap: Vorlesungen in Gebärdensprache

Studieren mit Handicap: Vorlesungen in Gebärdensprache

Ein Verein in Bad Kreuznach möchte die erste europäische Uni gründen, an der nur in Gebärdensprache unterrichtet wird. Dr. Barth, erster Vorsitzender des Vereins, erklärt im E-Mail-Interview, warum dies dringend nötig ist.

In Deutschland leben etwa 80.000 Gehörlose, ihre Sprache ist die Gebärdensprache. Während Hörende die freie Wahl zwischen zahlreichen Universitäten haben, sind die Möglichkeiten für Gehörlose weitaus begrenzter. Gerade mal eine Universität gibt es, an der komplett in Gebärdensprache unterrichtet wird – und die liegt in den USA. Wer hierzulande in Gebärdensprache studieren möchte, ist beschränkt auf „Gehörlosenkultur“ oder „Gebärdensprachdolmetschen“ – oder muss sich durch ein Studium voller Sprachbarrieren kämpfen. Zeit, die Gründung einer Gebärdensprach-Universität in Europa umzusetzen.

Erste europäische Gebärdensprach-Uni in Bad Kreuznach

Die Idee, eine Gebärdensprach-Universität in Europa zu gründen, hatte der Stadtrat von Bad Kreuznach (Rheinland-Pfalz) Peter Anheuser im Frühjahr 2009. Schnell entstand ein Netzwerk, das entschloss, sich für dieses Ziel zu engagieren – zunächst über die Gründung einer Uni-Gesellschaft, eines Trägervereins, der notwendige Voraussetzung ist, um eine private oder staatliche Universität zu gründen. So wurde 2010 die „Gesellschaft der Europäischen Gebärdensprach-Universität Bad Kreuznach e.V.“  gegründet.

Dr Ingo Barth

Dr. Ingo Barth, erster Vorsitzender des Vereins, weiß selber, mit welchen Problemen Gehörlose an Universitäten zu kämpfen haben. Im E-Mail-Interview sprach der erste Gehörlose mit einem Doktortitel in Chemie mit bildungsXperten darüber, welche Hoffnungen er in die erste europäische Universität für Gehörlose steckt. Denn nur zu gut erinnert Barth sich selber an die Schwierigkeiten während seines Studiums: „Es gab keine tauben Mitstudenten, und ich benötigte für mein Physik-Studium vor allem Mitschreibekräfte um das Gesprochene schriftlich festhalten und zu Hause nacharbeiten zu können.“

Denn von den Lippen ablesen funktioniert im Vorlesungssaal nicht, erst recht nicht, wenn auf hohem Universitätsniveau gesprochen wird. Während Dr. Barth während seines Physik-Studiums Studenten höherer Semester darum bitten musste, für ihn mitzuschreiben, waren für seine Promotion Gebärdensprachdolmetscher nötig, um überhaupt mit anderen Kollegen diskutieren zu können. Auch in Studiengängen wie Sprach- oder Sozialwissenschaften, in denen viel gesprochen wird, sei ein Dolmetscher unbedingt nötig, so Barth.

Uni Herausforderung für Gebärdensprachdolmetscher

Denn dort existiert leider keine Barrierefreiheit für Gehörlose, erklärt Barth. „Falls nur ein gehörloser Student ein bestimmtes Studienfach studieren möchte, dann gibt es meist Probleme mit der Bezahlung von doppelbesetzten Dolmetschern.“ Dolmetscher sind schwer zu finden und müssen erst einmal genehmigt werden. Hinzu kommt, dass gerade bei Fachbegriffen Vorbereitungszeit nötig ist, denn Dolmetscher und Student müssen erst einmal eine Gebärde absprechen, die z.B. für komplizierte medizinische Ausdrücke verwandt wird. Nicht nur für Gehörlose, auch für Dolmetscher ist die Universität eine große Herausforderung, da das Niveau sehr hoch ist,weiß Barth.

Nur rund 100 gehörlose Studenten in Deutschland

Und spätestens dann, wenn Gehörlose und Hörende sich gerne über bestimmte Seminarthemen austauschen möchten, stehen beide vor einer Sprachbarriere. Ein Grund, warum nur rund 100 Gehörlose in Deutschland ein Studium beginnen, die meisten davon in Großstädten wie Berlin, Hamburg, München oder Köln.

Unterrichtssprache: Deutsche Gebärdensprache

All das soll in Bad Kreuznach keine Rolle mehr spielen. Denn Unterrichtssprache für Dozenten, Mitarbeiter und Studenten in Bad Kreuznach soll die Deutsche Gebärdensprache (DGS) sein. Doch die Universität will Hörende damit nicht ausschließen – vielmehr sollen auch sie an der Universität studieren können, wenn Sie die Deutsche Gebärdensprache beherrschen. „Wir wollen die zweite Uni weltweit (und die erste in Europa) sein, aber wir möchte das nicht begrenzt sehen auf eine Uni für Gehörlose, sondern sehen unser Ziel in einer Gebärdensprach-Universität für ALLE“, betont Dr. Barth das Vorhaben, ein gemeinsames Studium für Hörende und Gehörlose zu ermöglichen. Damit dieses auch in Zukunft erreicht werden kann, sollen an der Universität auch gebärdensprachkompetente Lehrer und Dozenten ausgebildet werden.

Denkbar sind alle Fächer, von Jura bis Tiermedizin

Endlich andere Fächer studieren als „Gebärdensprachdolmetschen“ oder „Gehörlosenkultur“ – für manche Gehörlose, die gerne in Wirtschaft oder Technik tätig sein möchten, klingt das wie ein Segen. An der Universität sollen alle Fächer denkbar sein, die an anderen Universitäten angeboten werden, schreibt Barth: „Von Jura, bis zur Tiermedizin“. Zunächst sollen mindestens zwei Fakultäten eingerichtet werden, auf jeden Fall Sprach- und Sozialwissenschaften, „später sollen weitere Fakultäten folgen (Wirtschaft, Recht, Naturwissenschaft, Ingenieurwissenschaft), Informatik gehört auf jeden Fall dazu.“ erklärt Barth im E-Mail-Interview.
„Im ersten Schritt wird es vielleicht eine private Universität sein, Ziel ist die Verstaatlichung. Wir wollen vorerst BA-Studiengänge und später auch MA-Studiengänge anbieten, natürlich alle mit dem Fach DGS (insbesondere für Hörende). Die Uni soll europäisch anerkannt sein.“, erläutert der Chemie-Doktor die Ziele der Gesellschaft. Darüber hinaus ist ein Gebärdensprach-Zentrum geplant, wo die am meisten verbreiteten europäischen Gebärdensprachen, z.B. die British Sign Language und die Langue du signes française permanent angeboten und gelehrt werden, und weitere, weniger bekannte Gebärdensprachen modulweise erlernt werden können, so Barth.

Vorbild: die amerikanische „Gallaudet University“

Vorbild der geplanten Bad Kreuznacher Hochschule ist die US-amerikanische „Gallaudet University“ in Washington, D.C, die bereits 1984 gegründet wurde. Dort sind 2.000 Studenten eingeschrieben, die in der amerikanischen Gebärdensprache unterrichtet werden und so Bachelor-, Master und Doktorgrade erlangen können. In Bad Kreuznach soll mit rund 300 Studenten „klein angefangen“ werden, so Barth. Dass auch dort die Zahl der Studenten schnell ansteigt, ist nicht auszuschließen – denn Bedarf gibt es in Europa genug.

Scheitert das Projekt an den Kosten?

Wichtigste Aufgabe der Gesellschaft ist jedoch zunächst das Beschaffen einer Zulassung für die Uni sowie das Auftreiben eines Grundkapitals durch Sponsoren. Denn scheitern könnte das Projekt an den finanziellen Mitteln: „Insgesamt werden für den Bau und die Renovierung der Universität ca. 100 Millionen Euro benötigt.“  Der Campus soll auf der ehemaligen Militärbasis „General Rose“ entstehen, allein das acht Hektar große Grundstück kostet 7- 8 Millionen Euro. Hinzu kommen 15 Millionen Euro für die Renovierung von fünf denkmalgeschützten Gebäuden sowie weiteres Geld für die Renovierung von Studentenwohnheimen und Mensa.

„Noch ist unser Spendentopf spärlich“, so Barth. „Derzeit sammeln wir Spenden von privaten Personen und Investoren. Wir haben auch schon Kontakte zu den Politikern auf allen Ebenen und das Bundesministerium für Bildung und Forschung weiß bereits von unserem Vorhaben in Bad Kreuznach.“ Geplant ist, zunächst eine private Universität zu gründen und diese später vom Bund finanzieren zu lassen.

Dann erst wird sich entscheiden, ob Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention (2008) „Niemand darf vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“ für Gehörlose in Bad Kreuznach europaweit zum ersten Mal umgesetzt werden kann.

Weitere Informationen über das Projekt finden Sie im Kreuznach-Blog und im Blog der „Gesellschaft der Europäischen Gebärdensprach-Universität Bad Kreuznach e.V.“.

Autor/in: Sarah Dreyer
Veröffentlicht am 20. Januar 2011

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