Viele Kinder in Deutschland leiden unter einer Lese-Rechtschreibschwäche. Im Interview erklärt Christiane Seidemann, diplomierte Legasthenie- und Dyskalkulietrainerin im BEST-Sabel-Bildungszentrum, die Hintergründe und Therapieansätze und gibt Tipps, wie Eltern ihre Kinder bestmöglich unterstützen können.
bildungsXperten: Frau Seidemann, Sie befassen sich mit dem Thema „Lese-Rechtschreib-Schwäche“ in den BEST-Sabel Einrichtungen in Berlin. Bitte stellen Sie sich und Ihre Tätigkeit kurz vor.
Christiane Seidemann: In meiner langjährigen Tätigkeit als Lehrerin für Russisch und Geschichte habe ich es oft mit Kindern zu tun gehabt, denen das Lesen und Schreiben und vor allem auch das Erlernen der Fremdsprache sehr schwer fiel, obwohl sie in den anderen Fächern gute Leistungen erreichten.
Deshalb beschäftige ich mich schon etwa seit 1985 mit diesem Problem der Lese-Rechtschreibschwäche und habe 1996 im BEST-Sabel-Bildungszentrum die Möglichkeit erhalten, eine Einrichtung zu schaffen, in der solchen betroffenen Kindern speziell außerschulisch geholfen werden kann.
Ich habe mich weitergebildet – bin diplomierte Legasthenie- und Dyskalkulietrainerin. Inzwischen bin ich auch keine Einzelkämpferin mehr – es gibt in Berlin 3 Standorte und ein weiteres BEST-Sabel-Lese-Rechtschreib-Studio in der Stadt Brandenburg.
bildungsXperten: Was genau bedeutet die Bezeichnung „Lese-Rechtschreib-Schwäche“ und wie äußert sich diese bei Kindern? Was sind erste Anzeichen, an welchen ich als Elternteil erkennen kann, dass mein Kind diese Schwäche hat?
Christiane Seidemann: Diese Frage lässt sich mit einem oder zwei Sätzen nicht beantworten. Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen versuchen die Tatsache zu erklären, dass es Kinder gibt, die im Verhältnis zu der Gesamtheit ihrer schulischen Lern- und Leistungsmöglichkeiten im Lesen und Schreiben oder auch nur in einem der beiden Teilbereiche deutlich schlechtere Leistungen erreichen.
Entsprechend der Unterschiedlichkeit der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen gibt es somit auch unterschiedliche Herangehensweisen und damit auch unterschiedliche Antworten auf die Frage, was eine Lese-Rechtschreibschwäche ist.
Wir folgen der Auffassung, dass eine Lese-Rechtschreibschwäche jegliche Form von Störungen beim Schriftspracherwerb umfasst, wir damit die Probleme der Kinder benennen, die besondere Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens haben. Das schließt nicht aus, dass es sehr unterschiedliche Ausprägungen und auch unterschiedliche Ursachen für diese Probleme geben kann. Wir sagen deshalb immer, dass jedes betroffene Kind seine ganz spezifische Lese-Rechtschreibschwäche ausprägt.
Erste Anzeichen für eine Lese-Rechtschreibschwäche lassen sich – so sollte man meinen – erst erkennen, wenn das Kind beginnt, lesen und schreiben zu lernen. Die Probleme beim Lesen können sich darin äußern, dass das Kind überhaupt nicht gern liest, sich dafür lieber die Bilder anschaut und gern zuhört, dass es nur schleppend und langsam liest, Wörter und Wortteile, vor allem Endungen auslässt.
Beim Schreiben stellt man fest, dass heute geübte Wörter morgen schon wieder falsch geschrieben werden, das gleiche Wort mal richtig, mal falsch und dann noch unterschiedlich falsch geschrieben wird. Buchstaben werden ausgelassen, zusätzlich eingefügt oder vertauscht, spiegelbildliche oder gedrehte Buchstabenformen werden verwechselt (b – d). Es muss aber hinzugefügt werden, dass diese Fehler bei allen Kinder auftreten können, bei Kindern mit einer Lese-Rechtschreibschwäche sind sie aber viel häufiger und vor allem viel hartnäckiger und länger anzutreffen.
Anzeichen gibt es aber auch schon im Vorschulalter, wenn das Kind zum Beispiel nicht gern puzzelt, Memoryspiele meidet und auch Reime und Kinderlieder nicht mag. Auffällig ist auch ein Desinteresse an Buchstaben im Alltag, z. B. an Autokennzeichen, an Straßenschilder usw. sowie am Schreiben des eigenen Namens. Auch die Stifthaltung des Kindes ist zu beachten, der Stift sollte zum Schulbeginn im „Dreifingergriff“ gehalten werden.
bildungsXperten: Wie entsteht eine Lese-Rechtschreib-Schwäche? Ist diese genetisch bedingt oder auf eine zu geringe Förderung in der frühen Kindheit zurück zu führen? Können Eltern dieses Problem vermeiden, und wenn ja, wie?
Christiane Seidemann: Wissenschaftler aus vielen Ländern suchen nach den Ursachen der Lese-Rechtschreibschwäche. Zur Zeit gibt es ein Mosaik von Einzelergebnissen aus verschiedenen Forschungsbereichen und Wissenschaftsdisziplinen, die noch nicht zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden können. Tatsache ist aber, dass eine Lese-Rechtschreibschwäche in der Regel auf biologische, also genetische Ursachen zurückzuführen ist und somit auch vererbt wird.
Wenn Eltern selbst gelegentlich Bücher oder Zeitschriften bekommen, mal einen Brief oder eine Postkarte auch mit der Hand schreiben, mit den Kindern malen und basteln – all das spielt natürlich eine große Rolle für den Schriftspracherwerb des Kindes.
Die Eltern sollten ihre Kinder früh an den Umgang mit Schriftsprache in jeglicher Form gewöhnen. Vor allem auch dem Vorlesen und später dem gemeinsamen Lesen kommt ein hoher Stellenwert zu. Vermeiden lässt sich eine Lese-Rechtschreibschwäche damit leider nicht – aber ein Kind, das zu Hause gefördert und gefordert wird, dem Verständnis und Vertrauen und vor allem Geduld entgegengebracht wird, wird es leichter haben, Probleme anzupacken und zu lösen.
bildungsXperten: Muss das Kind sofort in einer speziellen Fördergruppe unter gebracht werden, oder können die Eltern zunächst versuchen, mit dem Kind Lesen und Schreiben zu üben?
Christiane Seidemann: Auf jeden Fall sollten sich betroffene Eltern Hilfe suchen – das erleichtert Vieles. Denn Hausaufgaben und Diktatübungen zu Hause entwickeln sich oft zur Tortur für Kind und Eltern. Die Eltern sind verunsichert, wenn es keine Fortschritte gibt, das Kind weiß, dass es den Erwartungen der Eltern nicht gerecht werden kann, das wiederum führt zu einer Blockade. Nicht selten bleibt es dann bei dem Rat der Lehrerinnen und Lehrer, noch mehr mit dem Kind zu üben. Es dauert nicht lange und das Eltern-Kind-Verhältnis ist belastet, im schlimmsten Falle sogar gestört.
Eine gezielte Hilfe ist deshalb von Nöten. Dabei sollte keine Zeit verloren werden. Je eher das Problem erkannt wird, umso besser. Deshalb ist es sinnvoll, das Kind in einer speziellen Fördergruppe anzumelden, in der Regel in einer außerschulischen Einrichtung für Lerntherapie und Förderunterricht. Dem sollte jedoch auf jeden Fall eine gründliche Diagnostik des Kindes und eine gründliche Beratung der Eltern vorhergehen.
bildungsXperten: Wie gehen die Kinder selbst mit dieser Schwäche um? Versuchen sie diese zu verbergen oder stehen die meisten selbstbewusst dazu?
Christiane Seidemann: Niemandem fällt es leicht, seine Schwächen offen einzugestehen. Am Anfang haben diese Kinder kein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Woher auch? In ihren Augen und den Augen der meisten Mitmenschen haben sie ja „alles“ falsch gemacht. Deshalb müssen diese Kinder erst einmal motiviert und gestärkt werden. Das geht einher mit einer Aufklärung der Eltern, Lehrer und Mitschüler zum Thema Lese-Rechtschreibschwäche. Mit den ersten „kleinen Erfolgen“ und viel Lob wird sich dann auch das Selbstbewusstsein entwickeln. Dann können die Kinder mit ihrem Problem gelassener umgehen. Wichtig ist es, die Stärken der Kinder zu erkennen, sie zu fördern und mit diesen ihren Stärken ihre Schwächen zu bekämpfen.
bildungsXperten: Welche Therapie-Ansätze gibt es, um diese Schwäche zu verringern oder gar zu beheben?
Christiane Seidemann: Es gibt heutzutage viele verschiedene Therapie-Ansätze. Es gibt Verfahren, die an den konkreten Schwierigkeiten – lernaufgabenspezifisch – ansetzen und auf der Sprachstruktur oder der Sprache im Kontext basieren. Es gibt Therapien, die auf die „Reprogrammierung“ neurologischer Funktionen setzen, zum Beispiel durch Hör- und „Halbfeld“-Trainings. Hierfür stehen Vertreter wie Delacato und Tomatis.
Zu nennen sind auch noch Formen, die die Übung grundlegender basaler Funktionen in den Mittelpunkt rücken, dazu gehören ein allgemeines Wahrnehmungstraining, zum Beispiel sensomotorischer Funktionen und das Training der visuell-räumlichen Wahrnehmung ohne weitere Verbindung zu Sprache und Symbolen.
bildungsXperten: Welchen Therapie-Ansatz verfolgen die BEST-Sabel-Lese-Rechtschreib-Studios?
Christiane Seidemann: Die BEST-Sabel-Lese-Rechtschreib-Studios nutzen einen Therapieansatz zum ersten Verfahren. Wir gehen in unseren Kursen nach der AFS-Methode vor. A steht für Aufmerksamkeit, F für Funktions- , also Wahrnehmungstraining und S für Symptomtraining – Arbeit an den spezifischen Fehlern eines jeden Kindes.
In unseren speziellen Lese- und Rechtschreibübungen sind Übungen zur Wahrnehmung und Konzentration integriert. Auch das mehrkanalige Lernen ist ein Schlüssel für unsere erfolgreiche Therapie.
Rechtschreibfehler lassen sich nicht durch einseitiges Üben an Teilleistungsdefiziten beheben – ausschließlich durch visuelle, taktile oder auditive Übungen verändern sich keine Rechtschreibleistungen. Lesen und Schreiben lernt man durch Lesen und Schreiben.
Verknüpft man das Symptomtraining damit, wirken sie unterstützend, lockern auf, helfen Aufmerksamkeit und Konzentration mehr und mehr zu halten, was wieder eine Voraussetzung für fehlerfreies Arbeiten darstellt … und der Kreis schließt sich.
In unserer Förderung gilt: Da sich die Ursache für eine Lese-Rechtschreibschwäche nicht auf eine eindimensionale Erklärung reduzieren lässt, kann auch die Therapie und Förderung keine eindimensionale sein, deshalb versuchen wir mit einer Vielfalt von Methoden für jedes Kind die richtige zu finden.
bildungsXperten: Wie geht man mit temporären Motivationseinbrüchen und Frust der Kinder um?
Christiane Seidemann: Natürlich kommt es auf die Intensität des ‚Aussteigens‘ an, und dann auf das Geschick des Kursleiters, wie es ihm gelingt, die Kinder ‚aufzufangen‘. Wichtig, und für uns ist es grundlegend, sie zu nehmen wie sie sind und ihnen zu signalisieren, „Ich verstehe dich!“, „Ich kann nachvollziehen, warum du gerade jetzt so mutlos bist.“ Ein Gespräch bewirkt meist Wunder und die Schüler fangen sich verhältnismäßig schnell wieder. Je älter sie sind, um so besser funktioniert diese Methode, weil der Schüler es über das bewusste Verstehen einzuordnen schafft – was voraussetzt, dass bereits ein Vertrauensverhältnis aufgebaut wurde.
Die Jüngeren werden abwechslungsreich in unterschiedliche Lernspiele verwickelt, in denen das Spiel im Vordergrund steht. Erst später wird geklärt: „Was haben wir denn eigentlich heute trainiert?“ Wie überrascht sie dann sind, ‚geübt‘ zu haben! Spaß haben, Erfolge spüren – das sind beste Animateure, es wieder und wieder zu versuchen, Zwänge, Vorhaltungen (auch gut gemeinte!), Predigten, gar Strafen …. erzeugen nur Druck oder Trotz oder aggressive Wutausbrüche und man bewirkt genau das Gegenteil von der eigentlich verfolgten Absicht. Das vergessen leider oft Eltern wie Pädagogen gleichermaßen.
bildungsXperten: Eine Lese-Rechtschreibschwäche zu therapieren ist recht zeitintensiv. Wer trägt die Kosten für die Behandlung – übernehmen diese die Krankenkassen?
Christiane Seidemann: Die Krankenkassen übernehmen die Förderkosten prinzipiell nicht. Es sei denn, es stehen auch logopädische Hintergründe an. Der Zeitraum (oft nur 10 Behandlungen) ist für ein LRS-Kind nicht ausreichend.
Je nach Bundesland kann durch die Eltern Unterstützung beim Jugendamt als Kostenträger beantragt werden. Bedingung ist, dass Eltern und Kind psychologische Gutachten vorlegen, die eine bereits vorhandene oder zu erwartende seelische Behinderung nach § 35a bescheinigen, die durch das fehlende Leistungsvermögen ausgelöst wurde; dass ‚Schule‘ schriftlich nachweist, was zur Unterstützung getan wurde und dass sie mehr nicht leisten kann, sich deshalb außerschulische Förderung erforderlich macht. Dann wird die Möglichkeit einer Kostenübernahme geprüft, meist für ein Jahr, in Einzelfällen eventuell für ein zweites. In der Regel tragen jedoch die Eltern selbst die Förderkosten in vollem Umfang.
bildungsXperten: Wer darf eigentlich eine Lese-Rechtschreib-Therapie durchführen/ anbieten? Welche Ausbildung ist nötig?
Christiane Seidemann: Jeder, der glaubt, es zu können …. Doch seriös ist das nicht. Als Basis sollte schon eine pädagogische Ausbildung vorliegen, idealer Weise mit Grundwissen über den Aneignungsprozess des Lesens und Schreibens. Durch spezielle zielgerichtete Ausbildungen, die nachweislich zum Abschluss geführt wurden (Zertifikate, Diplome), erwirbt man sich lerntherapeutische Fähigkeiten. In unseren BEST-Sabel-Lese-Rechtschreib-Studios haben alle Leiter den Abschluss eines Legasthenie- und Dyskalkulietrainers.
Noch vor gut 10 Jahren gab es deutschlandweit kaum Ausbildungsmöglichkeiten. Inzwischen existieren zertifizierte und anerkannte Institutionen, die ausbilden, sei es der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie, das Berliner Institut für integratives Lernen und Weiterbildung oder der Erste Österreichische Dachverband Legasthenie mit seiner jungen ‚Schwester‘, dem Dachverband Legasthenie Deutschland.
Das Interview führte Julia Höger.
Autor/in: BEST-Sabel