Arme Kinder – reiche Perspektivlosigkeit

Arme Kinder – reiche Perspektivlosigkeit

Kriminalität, Arbeitslosigkeit, eine drastische Sparpolitik und keine Aussicht auf eine Zukunft –  in den Straßen Großbritanniens endete der Aufruhr der Jugendlichen ohne Perspektive in blutigen Krawallen. Auch ein Fünftel der deutschen Kinder sind arm, haben keine Chancen zu lernen. SZ-Journalist Felix Berth erklärt in seinem Buch „Die Verschwendung der Kindheit: Wie Deutschland seinen Wohlstand verschleudert“, was man tun müsste, damit Deutschland vor solchen Krawallen verschont bleibt.

bildungsXperten: Herr Berth, erzählen Sie uns doch erst einmal etwas über sich und wie Sie dazu kamen, ein Buch über Kinderarmut zu verfassen?

Felix Berth

Felix Berth, Redakteur der Süddeutschen Zeitung und Buchautor. Foto: Catherina Hess

Felix Berth: Ich bin seit mehr als zehn Jahren Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Seit sieben Jahren schreibe ich im Ressort Innenpolitik über familienpolitische Themen. In diesen sieben Jahren ist die politische Debatte über Familienpolitik intensiver geworden. So habe ich mich immer mehr mit Kinderarmut beschäftigt und nach und nach Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen und wissenschaftlichen Forschungsrichtungen zusammengetragen – der Soziologie, der Ökonomie, der Psychologie und der Hirnforschung. Ich habe mit Kindern geredet, mit Eltern, mit Experten. Mein Wissen und meine Erfahrungen würde ich in einem Kernsatz bündeln: In der Bundesrepublik werden Kinder aus den benachteiligten Schichten zu schlecht unterstützt.

bildungsXperten: Zunächst einmal eine generelle Frage: Wie definieren Sie Armut und wie macht sich Armut, vor allem Kinderarmut, heute in Deutschland bemerkbar?

Felix Berth: Die klassische Definition ist, dass man, wenn man arm ist, weniger als die Hälfte des nationalen mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat. Armut in Deutschland ist keine Not, wie sie die Menschen im und nach dem Zweiten Weltkrieg kannten. Kinderarmut zeigt sich darin, dass den betroffenen Kindern Lebenschancen fehlen.

bildungsXperten: Worauf haben diese Kinder zum Beispiel weniger Chancen?

Felix Berth: Vor allem aufs Lernen. In den allermeisten Familien der Bundesrepublik haben es Kinder heute gut und sogar besser als eine oder zwei Generationen vorher. Denn die meisten Eltern kümmern sich sehr engagiert um den Nachwuchs. Für diese Eltern sind Kinder auch ein Investitionsgut geworden, in das man ganz viel Engagement steckt, damit daraus etwas wird – was ich nicht negativ meine: Diesen Kindern tut das Engagement der Eltern im Großen und Ganzen gut.

Aber daneben gibt es eine Risikogruppe, zu der ungefähr  zwanzig Prozent der Kinder zählen. Wir wissen, dass ein Fünftel der Kinder bei den PISA-Tests sehr schlecht abschneidet, also nur äußerst dürftig lesen und rechnen kann. Wir wissen auch, dass ein Fünftel der Kinder in Armut lebt. Wir wissen weiter, dass ein Fünftel der Kinder sich schlecht ernährt und deutlich zu dick ist. Natürlich sind diese drei Gruppen nicht völlig deckungsgleich – aber die Überschneidungen sind enorm.

Diesen Kindern fehlt es von klein auf an Anregungen, an Lernchancen, an Möglichkeiten. Viele von ihnen werden deshalb weniger neugierig, weniger aufgeschlossen; sie haben weniger Antrieb und weniger Interesse, die Welt zu erforschen. Sie lernen weniger gut, auch mal Frustrationen auszuhalten, die zum Lernen dazugehören.  Vieles davon passiert schon weit  vor dem Schulstart.

bildungsXperten: Sie haben gerade schon das Stichwort „PISA“ genannt. Viele setzen Ihre Hoffnung auf die Schulen – Sie sagen, das greift zu kurz, weil Kinder schon vorher gefördert werden müssen. Warum sind gerade die ersten Lebensjahre so entscheidend für die Entwicklung der Bildung von Kindern?

Felix Berth: Wenn Sie die entwicklungspsychologische Literatur der 70er Jahre anschauen, dann bekommen Sie ein Bild vom Säugling als einem Wesen, das nur schläft, trinkt und in die Windeln macht. Doch in den letzten Jahrzehnten haben Forscher gezeigt, dass das nicht stimmt. Heute sagen uns die Entwicklungspsychologen, dass schon sechs Monate alte Babys zu ganz erstaunlichen kognitiven Leistungen in der Lage sind. Und das setzt sich natürlich fort: Lernen baut ja aufeinander auf – ein Schritt folgt auf den Nächsten. Wenn Sie dreijährige Kinder nebeneinander beobachten, werden Sie feststellen, dass diese erst einmal grundsätzlich sehr wach sind, sehr engagiert, sehr beteiligt an der Welt, aber auch sehr unterschiedlich in dem, was sie schon gelernt haben. Und wenn Sie diese Kinder drei Jahre später bei der Einschulung sehen, sind diese Unterschiede noch sehr viel stärker ausgeprägt. Da gibt es diejenigen, die schon ein bisschen desinteressiert sowie vom vielen Fernsehen geprägt sind, und es gibt diejenigen, die sehr neugierig und aufgeschlossen wirken.

Buchtipp

Die Verschwendung der Kindheit –
Wie Deutschland seinen
Wohlstand verschleudert (17,95€)

Die Verschwendung der Kindheit Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf und hat bereits beim Schulstart enorme Defizite. Felix Berth zeigt, dass nur frühe Bildung gegen Kinderarmut hilft. Jetzt bestellen

Auch die Hirnforschung zeigt, dass in den ersten Jahren ganz viel im Gehirn passiert. Diese Erkenntnis passt zu den Befunden der Entwicklungspsychologen, wonach die ersten Jahre von enormer Bedeutung sind. Und jede Erzieherin aus einer Kindertagesstätte wird Ihnen bestätigen, dass die „Kleinen“ ganz viel lernen. Wobei „Lernen“ nicht meint, dass die Dreijährigen Englischvokabeln pauken oder dass sie auf Schulbänken sitzen. Doch sie lernen viel über die Welt, über ihren Platz darin und über das, was sie von der Welt erwarten können.

bildungsXperten: In Ihrem Buch sagen Sie, dass wir wieder in einer Dreiklassengesellschaft leben. Was denken Sie, wie bewusst ist es denjenigen, die in der Mittel- oder Oberschicht leben, dass es tatsächlich eine Unterschicht gibt und dass vor allem die Kinder so darunter leiden?

Felix Berth: Ich glaube, viele Eltern haben heute so etwas wie Statuspanik entwickelt: eine Angst, dass die eigene Familie sozial abrutschen könnte. So gesehen ist die Wahrnehmung von „oben“ und „unten“ bei vielen Eltern durchaus ausgeprägt. Allerdings bedeutet das nicht, dass daraus schon eine politische Debatte entstünde. Doch diese Debatte sollten wir beginnen: Wollen wir eine Gesellschaft, in der zwanzig Prozent der Kinder ziemlich schlechte Chancen haben – oder wollen wir daran etwas ändern?  Wenn wir etwas verändern wollen, dann hilft es nicht, auf Schulreformen zu hoffen: Die Unterstützung der Kinder muss früher beginnen.

bildungsXperten: Jetzt interessieren mich natürlich Lösungsvorschläge. In Ihrem Buch nennen Sie ja einige Beispiele, wie es anders gehen könnte, z. B. die Perry Preschool in Ypsilanti in den USA. Dort hat sich gezeigt, dass Kinder, die eine Vorschule besucht haben, weitaus cleverer und weniger kriminell sind als Kinder, die keine Vorschule besucht haben. Was können wir daraus in Deutschland lernen?

Felix Berth: Wenn man sich die Ergebnisse der Perry Preschool ansieht, denkt man im ersten Moment: Das ist doch unmöglich. Da wurde eine Gruppe von 120 Dreijährigen aus ganz schwierigen, afroamerikanischen Familien gebildet. Die Eltern waren arbeitslos und schlecht ausgebildet, die Väter häufig im Gefängnis, die Familien lebten in winzigen Wohnungen, die Kinder hatten einen sehr niedrigen IQ. Von diesen 120 Dreijährigen kamen 60 in einen sehr guten Kindergarten und 60 Kinder liefen als Kontrollgruppe nebenher, ohne gefördert zu werden. Dann wurde jahrzehntelang überprüft: Wie entwickeln sich die Kinder aus beiden Gruppen? Dabei stellen die Forscher fest,  dass es zwar keine großen Unterschiede beim IQ gibt. Doch es zeigten sich trotzdem dramatische Differenzen: bei den Lebenseinkommen, bei der Abhängigkeit von Sozialhilfe, in der Drogenkriminalität, in der Kriminalität insgesamt. Im Nachhinein, nach 40 Jahren, kann man feststellen, dass dieses Experiment höchst rentabel für die ganze Gesellschaft war: Die Perry Preschool hat sich für jedes einzelne Kind gelohnt – und für den Staat, der dieses Experiment finanziert hat.

bildungsXperten: Kann eine Kita den Lebensweg eines Kindes aus der Unterschicht so sehr beeinflussen?

Felix Berth: Dieser Erfolg hat einige Voraussetzungen. So hat die Perry Preschool mit einem sehr ambitionierten, klugen pädagogischen Konzept gearbeitet. Sie hatte einen Personalschlüssel, der mehr als doppelt so hoch ist wie in deutschen Kindergärten: In der Perry Preschool war ein akademisch ausgebildeter Erzieher  für fünf dreijährige Kinder da. Das ermöglicht eine intensive Betreuung und eine sehr aufwendige Elternarbeit. So konnte jeder Erzieher jeden Nachmittag eine „seiner“ fünf Familien besuchen, um auch dort mit den Kindern spielerisch zu lernen und die Mütter an der Bildung ihrer Kinder zu interessieren. Die Erzieher kamen dabei aber nicht als Sozialarbeiter, die bei familiären Problemen beistehen – sie waren Experten für gelingendes Lernen.

bildungsXperten: Doch kann man das einfach auf Deutschland übertragen?

Felix Berth: Wenn man in Deutschland aus diesem Experiment – von dem es in den USA in den sechziger Jahren noch ein paar mehr gab, die auch alle sehr erfolgreich waren – lernen will, muss man als erstes klären, wie man die Kinder erreicht, die von der Förderung am meisten profitieren. Dafür sollte man sich an den Stadtquartieren orientieren: Kindertagesstätten, die in einer sozial benachteiligten Gegend liegen, sind die richtigen Adressaten für solche Projekte. Außerdem ist die politische Entscheidung nötig, diese Kindertagesstätten mit mehr Geld auszustatten. Sie können dadurch mehr und höher qualifiziertes Personal einstellen und Kinder intensiver fördern. Letztlich geht es also um eine gezielte Ungleichbehandlung. Ich warne allerdings davor, zu glauben, mit Geld allein wäre alles getan. Uns fehlt in Deutschland eine Pädagogik der Bildungsgerechtigkeit: Einige Kitas haben zwar angefangen, da Erfahrungen zu sammeln – aber von einer systematischen, wissenschaftlich fundierten Pädagogik des Chancenausgleichs  sind wir noch weit entfernt. Einen ersten, intelligenten Versuch macht derzeit die Stadt München. Sie beginnt eines der besten sozialpolitischen Experimente, die wir in Deutschland in den letzten Jahren hatten. Am Anfang stand auch hier eine ökonomische Entscheidung: Kitas in schwierigeren Stadtteilen werden finanziell besser ausgestattet.

bildungsXperten: Wie funktioniert dies in München, wo kommt dieses Geld her?

Felix Berth: Das Geld kommt aus dem städtischen Haushalt – was natürlich voraussetzt, dass der Haushalt so etwas zulässt, was ja in armen Städten, gerade im Ruhrgebiet, oft nicht mehr der Fall ist. In München hat sich jedoch gezeigt, dass diese Ungleichbehandlung, die die Schwächeren stärken soll, nicht leicht durchzusetzen ist, weil sie ja den größeren Teil der Gesellschaft „verprellt“. Ein Politiker, der sich dafür einsetzt, hört von Mittelschichts-Eltern immer wieder das Argument „Gerecht ist doch, wenn alle das Gleiche kriegen“.  Das ist man in Deutschland so gewohnt. Dieses System prägt zum Beispiel unser Kindergeld: Da werden hunderte Milliarden mit der großen Gießkanne verteilt, ohne dass wirklich viel bei den Bedürftigen ankäme. Eine Frage, die sich mir aufdrängt, lautet: Ginge das genauer und gezielter?

bildungsXperten: Wäre das eine Möglichkeit, eine Lösung, das Kindergeld anderweitig zu investieren, in Kindertagesstätten oder nur für die sozial Schwachen?

Felix Berth: Als jemand, der interessiert ist am Wohl der Kinder, würde ich sagen:  Ja, da sind Korrekturen notwendig.  Als politisch denkender Mensch glaube ich jedoch, dass eine Kürzung des Kindergeldes politisch nicht durchsetzbar ist – ich wäre schon froh, wenn wir uns darauf einigen könnten, das Kindergeld fünf Jahre lang nicht zu erhöhen. Wie absurd die Situation in Deutschland ist, sehen Sie, wenn Sie zwei Zahlen nebeneinander halten. Die eine Zahl gibt wieder, was alle Schulen der Bundesrepublik kosten – also alle Grundschulen, Hauptschulen, Gymnasien, Realschulen, Gesamtschulen. Sie kosten den Staat 55 Milliarden im Jahr. Die andere Zahl gibt wieder, was das deutsche Kindergeld kostet: Es sind 41 Milliarden. Es sind nicht die gleichen Beträge, aber der Abstand ist nicht mehr besonders groß.

Wenn man aber die Bürger fragen würde: Was ist euch wichtiger? Ist diese Verteilung aus eurer Sicht richtig oder hättet ihr vielleicht lieber einen anderen Schwerpunkt? Dann würden die meisten sagen: „Nein, das hätten wir gerne korrigiert. Denn wir wissen doch, dass Bildung wichtiger ist als das Kindergeld.“

bildungsXperten: Selbst wenn man viel in die Kitas investiert, kommen die Kinder doch anschließend zurück in ein Elternhaus, in dem sich nicht viel geändert hat. Wie könnte man Elternarbeit leisten, damit sich tatsächlich auch in den Familien etwas ändert?

Felix Berth: Man kann mit früher Bildung keine wunderbare Welt schaffen. Eine Familie mit Hartz-IV-Tradition, ohne Zugang zum Arbeitsmarkt, mit hohem Fernsehkonsum und schlechten Ernährungsgewohnheiten wird sich nicht mal eben ändern, weil die Kinder früh in eine exzellente Kita gehen. Aber das ist auch nicht das Ziel. Es geht ja nicht darum, bürgerliche Familienideale für alle gültig zu machen – wer sich das wünscht, übersieht, dass wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben. Aber ich wäre trotzdem froh, wenn die Kinder solcher Familien im Alter von 3 Jahren und nicht erst im Alter von 5 Jahren in eine exzellente Kindertagesstätte kommen, in der sie von morgens halb neun bis nachmittags halb fünf unterstützt werden. Das gibt diesen Kindern große Lernchancen, wovon viele ihr ganzes Leben lang profitieren werden.

bildungsXperten: Wagen wir eine Zukunftsprognose: Was wird auf unsere Gesellschaft zukommen, wenn wir diese Kinder nicht fördern? Wir sehen derzeit die Unruhen in Großbritannien – könnte so etwas auch in Deutschland passieren?

Felix Berth: Ich bin da nicht wahnsinnig optimistisch. Sicher unterscheidet sich die deutsche Gesellschaft noch von der britischen – die Klassenunterschiede sind bei uns geringer. Doch wir sind auf einem schlechten Weg:  Die Ungleichheit in den letzten zwanzig Jahren ist massiv gewachsen, die Schichten schotten sich – auch wegen der erwähnten Bildungspanik der Eltern – viel stärker voneinander ab. Und in den Problemvierteln armer deutscher Städte leben Jugendliche, die ein bestimmtes Lebensgefühl teilen: „Wir haben hier doch eh keine Perspektive.“ Genau das ist das Gefühl der Perspektivlosigkeit, aus dem Randale und Krawalle entstehen.

Das Interview führte Sarah Dreyer.

Autor/in: Sarah Dreyer
Veröffentlicht am 18. August 2011

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